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Friedrich Dürrenmatt: Texte im Spannungsfeld von Literaturtheorie und Wissenschaftsgeschichte

Vortrag an der Universität Basel, 18. Mai 1999

0. Einleitende Bemerkungen
1. Analogie und Differenz naturwissenschaftlicher und künstlerischer Weltdarstellung
2. Aneignende Umsetzung naturwissenschaftlicher Denkmuster in literarischen Texten
3. Kritik an der Ausklammerung des Subjekts aus der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis
4. Spekulation und Erzählung: eine Poetologie der Inkorporation

0. Einleitende Bemerkungen

Friedrich Dürrenmatt hat sich als Schriftsteller jahrzehntelang intensiv mit den modernen Naturwissenschaften auseinandergesetzt, das ist allgemein bekannt. In seinem Arbeitszimmer stand eine Teleskop, Supernovae bevölkern sein bildnerisches Werk.

Umstritten ist allerdings die Bewertung dieser Bemühungen. Man lerne in Dürrenmatts Drama Die Physiker nichts über Physik, wurde von Literaturkritikern bemängelt. Philosophieren über die Quantentheorie ohne profunde Beherrschung der mathematischen Methoden sei Dilettantismus oder schlimmeres, sagen einige Physiker und Ingenieure, und sie weisen auf eklatante Fehlinterpretationen mathematischer Formalismen und naturwissenschaftlicher Forschungsmethoden hin, die Dürrenmatt sich zu Schulden kommen lasse. Sie rechtfertigen mit dieser Kritik am Detail ihren Unwillen, sich auf literarische Texte und ihre Fragestellungen überhaupt einzulassen.

Ist Dürrenmatt mit seinen Bemühungen, sich literarisch mit den Naturwissenschaften auseinanderzusetzen, abgestürzt im Graben, der zwischen den zwei Kulturen klafft? Die Risiken, die auf jeden lauern, der dieses Grenzgebiet betritt, wurden kürzlich wiederum deutlich gemacht durch das Verhalten des amerikanischen Physikers und Mathematikers Alan Sokal. In einer kulturwissenschaftlichen Zeitschrift dekonstrukvistischer Prägung veröffentlichte er 1996 einen Artikel "Transgressing the Boundaries - Toward a Transformative Hermeneutics of Quantum Gravitiy". Kurz nach dem Erscheinen des Artikels erschien in einer andere Zeitschrift ein Beitrag desselben Autors, in dem er offenlegte, welch offensichtlichen mathematischen und physikalischen Nonsens er im ersten Artikel über die Quantentheorie zum Besten gegeben habe - und die Herausgeber hätten davon nichts bemerkt. O.K., so weit so schlecht. Für Häme ist gesorgt. "Sokals Hoax" wurde u. a. in der New York Review breit diskutiert und es kamen dabei auch Fragen der Diskursethik zur Sprache. Wer sich vorwagt, das "Gran Canyon" zwischen den zwei Kulturen zu erkunden und Übergänge zu suchen, muss sich offenbar wappnen mit Gedanken über Grabenkrieg und Redlichkeit.

Es macht wenig Sinn, in solchen Debatten Dürrenmatt als Naturwissenschafter retten zu wollen, obschon er sich Literaten und anderen Künstlern gegenüber im Zusammenhang poetologischer Debatten gerne und wohl auch zu Recht auf seine relativ bessere Kenntnisse der modernen Naturwissenschaften berufen hat und obschon er seine eigene literarische Position, sein poetologische Selbstdefinition als Schriftsteller, immer wieder auch in Auseinandersetzung mit seinem Bild der modernen Naturwissenschaften zu entwerfen versuchte. Dessenungeachtet dürfte Dürrenmatts Beitrag zur Lösung naturwissenschaftlicher Probleme in einem engeren Sinne in der Tat gleich Null sein, aber Dürrenmatt hat solches nie beansprucht: "Ich bin nicht Naturwissenschafter, ich schreibe Komödien". (7. 492)

Sinnlos wäre es auch, Dürrenmatt retten zu wollen, indem man die Existenz des Grabens leugnet, der naturwissenschaftliche und geisteswissenschaftliche Kultur trennt. Zu gut war Dürrenmatt sich der Beschaffenheit dieses Unterschiedes bewusst, zu gut kannte er das Risiko, sich im Detail zu irren. Er hat sich in solchen Zusammenhängen darauf berufen, ein Spiel auf dem Schachbrett der Spekulation werde nicht gestört durch Unstimmigkeiten auf der Ebene des Tatsächlichen (7.432). Dem kann man folgen oder nicht. Wer folgt, denkt schon geisteswissenschaftlich, auch wenn er von Beruf Physiker wäre oder Ingenieur.

Dürrenmatt ist nicht als Naturwissenschafter zu verteidigen, sondern als Schriftsteller zu verstehen. Aufzuzeigen ist die kulturelle Relevanz seiner Auseinandersetzung mit den Naturwissenschaften. Auseinandersetzung: das bedeutet ja stets eine bestimmte Mischung von ja und nein. Auseinandersetzung heisst. Konstruktion eines Bildes des Andern, Selektion positiver Aspekte und deren Transposition ins Eigene. Aber es heisst umgekehrt auch: Negation von Aspekten, Konstruktion eines Gegenbildes, Abgrenzung der eigenen Position im Kontrast. Dürrenmatts Bild der Naturwissenschaften ist ambivalent. Es gibt Aspekte, die er bejaht und sowohl poetologisch wie literarisch transponiert. Es gibt Aspekte, die er negativ bewertet und ablehnt, die er vielleicht sogar überzeichnet, um im Kontrast das Eigentümlich literarischer Weltdarstellung deutlicher herausarbeiten zu können.

Elisabeth Emter hat kürzlich in einer bahnbrechenden Studie unter dem Titel "Literatur und Quantentheorie" gezeigt, dass Dürrenmatt sich zwar einerseits kritisch mit den technischen Umsetzungen der modernen Naturwissenschaften auseinandersetzt, z. B. mit der Bedrohung durch die Atombombe und die Verführung durch den Medienspektakel um die Raumschifffahrt, dass er sich andererseits jedoch intensiv interessiert für die theoretischen Inhalte der modernen Physik selbst und vor allem für deren erkenntnistheoretischen Implikationen. Emter zeigt insbesondere, wie die Aneignung der Quantentheorie in den literaturtheoretischen und poetologischen Äusserungen Dürrenmatts vor sich geht. Berühmte Dürrenmattsche Sätze wie z.B.: "die Wirklichkeit ist die Unwahrscheinlichkeit, die eingetreten ist" (7. 147) wären ohne diese Auseinandersetzung mit der Quantentheorie nicht möglich und sind ohne Kenntnis dieses Hintergrundes auch kaum verständlich.

Nach Elisabeth Emters Studie, die sich weitgehend auf die Untersuchung theoretischer Texte literarischer Autoren beschränkt, bleiben einige Dinge zu tun: aufzuzeigen bleibt im einzelnen die Umsetzung der angeeigneten naturwissenschaftlichen Denkmuster und Sprachspiele in den literarischen Texten. Und es bleibt aufzuzeigen, dass die Kritik an den Naturwissenschaften sich nicht nur auf die technologische Anwendung bezieht, sondern wesentlich und mit zunehmender Schärfe auch erkenntnistheoretische und forschungsmethodische Aspekte mit einbezieht. Dürrenmatts Kritik richtet sich gegen die systematische Ausklammerung des Subjekts aus der naturwissenschaftlichen Experimentierpraxis und aus der mathematischen Formalisierung naturwissenschaftlichen Wissens.

Wie diese Arbeit aussehen könnte, will ich in fünf Schritten skizzieren, wobei in jedem Abschnitt nur exemplarische Beispiele herangezogen werden können und Vollständigkeit in diesem Rahmen in keiner Weise erreichbar ist.

1. Analogie und Differenz naturwissenschaftlicher und künstlerischer Weltdarstellung

Dürrenmatts Aneignung naturwissenschaftliche-mathematischer Denkmuster in der Poetologie lässt sich exemplarisch am besten zeigen anhand seiner Sätze zum Theater (1970). Dort versucht Dürrenmatt, die Voraussetzungen seines "Meteor" zu durchleuchten. Er geht aus von Aristoteles Bestimmung der Tragödie als einer Darstellung des Möglichen. Was man für möglich hält, so Dürrenmatt, hänge allerdings davon ab, was man glaube, d.h. wie man die Wirklichkeit interpretiere. Das Mögliche sei für Sophokles ein anderes als für Calderon. Daraus folgert Dürrenmatt, der Dramatik des Möglichen "hafte ein subjektives Element an" (7. 137). Heute würden wir Schüler Foucaults an dieser Stelle wohl nicht mehr von Subjektivität reden, sondern von Episteme oder von der Historizität der Diskurse. Der Unterschied ist signifikant, wie sich noch zeigen wird. Dürrenmatt hält am Subjekt fest. Er zeigt dann, wie im Laufe der Neuzeit und wesentlich im 19. Jahrhundert zur Zähmung der Subjektivität auch im Drama nur noch das als Möglich gilt, was den Naturgesetzen entspricht. Möglich sei, was nach Naturgesetzen geschehen könnte. Dies führe zum Determinismus im Drama, zur möglichst vollständigen Motivierung der Handlungssequenzen. Determinismus neigt aber zur Übertragung vom Kausalmechanischen ins Moralische: Schuld ziehe Sühne nach sich usw. Die Abfolge der Handlung suggeriere damit die Notwendigkeit dieser Abfolge, und zwar eine kausale und wie moralische Notwendigkeit. Damit wird die Syntax zum Träger der Botschaft, und zwar zum Träger einer Botschaft, die nicht stimmt. Es seien neue Denkwerkzeuge nötig, um aus dieser Sackgasse herauszukommen. Statt im Gefolge der newtonschen Mechanik und eines deterministischen, kausalmechanischen Weltbildes von Möglichkeit und Unmöglichkeit zu sprechen, sei es an der Zeit, in Analogie zum Indeterminismus der Thermodynamik und der Quantenphysik in den statistischen Kategorien der Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit zu denken. Im Meteor versuche er, darzustellen, was wahrscheinlicherweise geschähe, wenn das Unwahrscheinliche einträfe. Ein Mensch, der unwahrscheinlicherweise vom Tode auferstünde, was er selber für unmöglich hält, würde in die Wirklichkeit wahrscheinlich mit zerstörender Gewalt einschlagen wie ein Meteor, denn niemand vermöchte einem immer wieder Sterbenden und Auferstehenden irgendwelchen nennenswerten Widerstand entgegenzusetzen. Durch diese Fiktion gelange das Drama zu einer wahrscheinlichen Darstellung des Todestriebes, und zwar auf dem Weg der Hypothesenbildung, der den theoriebildenden Verfahren der Naturwissenschaften nicht unähnlich sei. Dieser Konzeption der hypothesenbildenden Naturwissenschaften liegt Karl Poppers Logik der Forschung zugrunde. Auch die Naturwissenschaft, namentlich die moderne Quantentheorie, leitet nach Popper ihre Aussagen nicht induktiv aus der Beobachtung ab, sondern deduktiv aus hypothetischen Theorien, die den Charakter von logisch kohärent formulierten Einfällen habe, deren Wahrheit jedoch nie letztgültig erwiesen werden könne, mit denen man jedoch arbeite, solange sie brauchbare Resultate liefern und den Falsifikationstests standhalten.

Soweit die Analogie von Literaturtheorie und Wissenschaftstheorie bei Dürrenmatt. Soweit auch ein freies Referat der Untersuchungsergebnisse von Elisabeth Emter. Nun gibt es in den "Sätzen über das Theater" jedoch nicht nur die Aneignung naturwissenschaftliche geprägter Denkmuster, sondern auch eine deutliche Abgrenzung der unterschiedlichen Darstellungsweisen von Physik und Literatur.

Eine mathematische oder physikalische Fiktion ist etwas anderes als eine künstlerische. Eine physikalische Fiktion scheint mir eine bewußte Denktechnik zu sein, mit der ich der Wirklichkeit gleichsam eine Falle stelle und ihr so eine Antwort entlocke, die ich jedoch nur physikalisch zu deuten vermag; künstlerische Fiktionen scheinen mir Denktechniken zu sein, die darauf ausgehen, scheinbare Wirklichkeiten zu errichten. Wird durch eine physikalische Fiktion die Wirklichkeit befragt, wird die Wirklichkeit durch die künstlerische Fiktion künstlich hergestellt. Zur Wirklichkeit, wie sie ist, wird eine künstlerische Gegenwirklichkeit geschaffen, in der sich die Wirklichkeit, wie sie ist, widerspiegelt. Liegt bei der physikalischen Fiktion alles in der bewußt genauen Fragestellung, deren List in ihrem "also ob" besteht, und erzielt man dadurch nur eine der Wirklichkeit abgelistete Antwort, eine physikalische nämlich, hängt die Antwort, die die künstlerische Fiktion gibt, durchaus vom Standpunkt ab, von dem aus ich den Spiegel betrachte. Je nach Standort sehe ich in einem Spiegel diesen oder jenen Teil der Wirklichkeit, die sich im Spiegel widerspiegelt. Liefert die physikalische Fiktion eine Möglichkeit der physikalischen Welterkenntnis, so die künstlerische Fiktion viele Erkenntnisse, die durchaus nicht nur künstlerischer Art sein müssen. Beschäftigt jene unser physikalisches Wissen um die Welt, so diese unsere allgemeine Erfahrung mit der Welt. Wissen und Empirie sind nicht dasselbe. (7.152)
 
 
Die genaue Kommentierung dieses Textes allein würde den Rahmen des heutigen Vortrags sprengen. Nur einige Stichworte, sozusagen eingesteckte Fähnchen auf einer textuellen Landkarte sind hier möglich. Physik stellt der Natur Fallen, überlistet sie. Diese Auffassung erinnert an Kants Verhör-Metapher in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft, und sie erinnert an die Kritik an der experimentellen Methode der newtonschen Optik, wie Goethe sie in seiner Farbenlehre formuliert. In der Unterscheidung von Wissen und Empire dürfte ein Nachhall des Goetheschen Konzepts einer "zarten Empirie" zu vernehmen sein.

Die Antworten, welche die Physik erhält, mögen richtig sein, aber sie sind nicht deutbar ausserhalb des Sprachspiels der Physik. Dürrenmatt beschreibt die Physik als ein in sich geschlossenes System. Kunst hat demgegenüber eine Relation zur allgemeinen Erfahrung, Kunst ist ein offenes Sprachspiel. Das nur physikalisch relevante Wissen der Physik ist standpunktfrei, während die Empirie der Literatur den Standpunkt des Betrachters ausdrücklich einschliesst. Von dieser Standpunkthaftigkeit wird später noch zu reden sein.

Die Parallelität der Gedankenführung hat in diesem Text den Zweck der Abgrenzung. Der Durchgang durch die Wissenschaftstheorie führt zu einer verschärften Fassung der Poetologie. Diese abgrenzende Strategie verschärft sich im Spätwerk, namentlich im Text "Kabbala der Physik". Dort wird das Verhältnis von Physik und Kunst wie folgt bestimmt:

Die Physik treibt die Metaphysik aus dem Objekt hinaus und in die Mathematik hinein. Die Physik abstrahiert nicht, indem sie die Mathematik transzendiert, sie idealisiert. Das Objekt bleibt als unerkennbares dunkles Rätsel zurück. Die Kabbala dagegen treibt die Metaphysik mit Hilfe der Mathematik in das Objekt hinein, das in ein Symbol verwandelt und damit mehrdeutig wird. (6.700) Diese Formulieurungen lehnen sich eutliche an Goethes Begriffsbestimmung der Allegorie und der Symbolik in "Maximen und Reflexionen" an: Die Allegorie verwandelt dieErscheinung in einen Begriff, den Begriff in ein Bild, doch so, daß der Begriff in dem Bilde immer noch begrenzt und vollständig zu halten und zu haben und an demselben auszusprechen sei. Die Symbolik verwandelt die Erscheinung in Idee, die Idee in ein Bild, und so, daß die Idee im Bild immer unendlich wirksam und unerreichbar bleibt und, selbst in allen Sprachen ausgesprochen, doch unaussprechlich bliebe. (Goethe, Maximen und Reflexionen Nr. 1112 f.) Ich muss hier wiederum darauf verzichten, diesen wissenschaftskritischen und extrem polemischen Text von seinem Kontext her auszulegen. Ich habe das in meiner Zürcher Antrittsvorlesung versucht. Nur ein Hinweis noch: die Mehrdeutigkeit des kabbalistischen Symbols entspricht hier sehr genau der Standpunkthaftigkeit künstlerischer Widerspiegelung im Text aus den siebziger Jahren, denn in "Kabbala der Physik" erläutert Dürrenmatt diese Mehrdeutigkeit an einem Beispiel der bildenden Kunst: Zeichne ich ein Quadrat und ziehe ich die beiden Diagonalen, so erhalte ich vier rechtwinklige Dreiecke mit vier gleichen Katheten und vier gleichen Hypotenusen, perspektivisch einen unendlichen Korridor, die Katheten werden in diesem Korridor zum Fußboden, zu Wänden und zur Decke, zu vier parallelen Flächen, die sich, gespenstisch genug, erst im Unendlichen überschneiden. Doch ist dies nicht die einzige Deutung. Ich kann mir auch die vier sich mit den rechten Winkeln berührenden Dreiecke als Pyramide denken. Ich kann sie mir in beliebig großen Dimensionen vorstellen, doch nicht in unendlich großen, auch geht sie nicht in die Tiefe, sondern wächst mir entgegen, sehe ich in den Korridor hinein, sehe ich auf die Pyramide hinunter. Die perspektivische Sehweise kann ich auch die kabbalistische nennen. (6. 699)
 
 
Die Dürrenmattsche Gleichsetzung von perspektivischer Sehweise mit Kabbalistik ist sehr eigenwillig und hat kaum etwas mit anderweitigen Begriffsexplikationen von Kabbala zu tun. Andererseits ist der Bezug auf bildliche Darstellung für Dürrenmatt charakteristisch. Dürrenmatt hat stets abwechslungsweise geschrieben und gezeichnet, und gerade in den poetologischen Passagen der Stoffe wird immer wieder auf die Bedeutung des Zeichnens hingewiesen. Zeichnerische Darstellung erlaube dem Künstler eine Distanznahme, die im Schreiben schwer möglich sei. In diesem Sachverhalt liegt der Schlüssel für die Deutung des hier gegebenen Beispiels. Kabbalistische Sehweise ist hier nämlich nicht nur mit der Mehrdeutigkeit in bezug auf den dargestellten Gegenstand verbunden: Korridor oder Pyramide. Wichtig ist vielmehr auch die angesichts der Zeichnung mögliche Verdoppelung des Betrachterstandpunkts: sehe ich in den Korridor hinein, sehe ich auf die Pyramide hinunter.
Dieses Umstellen der Perspektive ist eine kraft des darstellenden Zeichens mögliche Transposition des Subjekts. Der Korridor symbolisiert die unausweichliche Bahn, deren Ende nicht zu erreichen ist. Dieser Korridor ist damit gleichsam die Minimalform des ausweglosen Labyrinths, in welchem das Subjekt nie an ein Ende kommt. Die Aufsicht auf die Pyramide hingegen ergibt die Vorstellung eines beliebig großen, aber nie unendlichen Raums, über den das Subjekt die Übersicht behält. So groß dieser Raum auch sein mag, der Betrachter steht darüber, hat die Möglichkeit der Distanznahme. Diese Möglichkeit verbindet Dürrenmatt in poetologischen Passagen seine Spätwerkes immer wieder mit dem Darstellungsmedium der Malerei und des Zeichnens. Das Labyrinth hingegen, der endlose Korridor, erscheint als Allegorie des Schreibens. Beide stehen zueinander im Schaffen Dürrenmatts in einer Beziehung der Komplementarität, und diese Komplementarität hat Dürrenmatt auch malerisch dargestellt in seinem Bild "Der gedemütigte Minotaurus".
Im Gespräch mit Franz Kreuzer im Jahr 1982 wird bereits über die Möglichkeit gesprochen, das Labyrinth zu übersteigen. In diesem Zusammenhang wird auf dieses Bild hingewiesen, auf den "Lausejungen", der über das Labyrinth hinwegtanzt und auf den Minotaurus hinunterpinkelt. In diesem Bild werde auf die Fähigkeit des Menschen angespielt, "über das Labyrinth hinauszusteigen", namentlich auch über das Labyrinth der Wissenschaften. Diese Möglichkeit sei immer da, sie manifestiere sich in der Kreativität, namentlich bei Kindern. Aber auch in der Kunst gelinge es dem Menschen, "sich über die Wissenschaft hinwegzusetzen, indem er sich klar wird, was Wissenschaft ist. Er kann die Wissenschaft auch wieder in den Griff bekommen, das heißt, er kann über das Labyrinth hinaussteigen." (Gespräche 3. 164)

Ich bin der Meinung, dass Dürrenmatts Aneignung naturwissenschaftlicher Denkmuster und Sprachspiele in den literarischen Texten erst den richtigen Hintergrund erhalten, wenn man auch die scharfe poetologische Abgrenzung der Kunst von der Physik zur Kenntnis nimmt und gelten lässt. Elisabeth Emter hat gute Gründen, diese Abgrenzung nicht betont, ging es doch erst einmal darum, überhaupt das Faktum der produktiven Rezeption in den Blick zu bekommen

2. Aneignende Umsetzungen

Ich komme nun zum zweiten Punkt meiner Problemskizze. Nachdem Elisabeth Emter Dürrenmatts positive Rezeption der Quantenphysik anhand poetologischer Aussagen nachgewiesen hat, wäre nun in einem weiteren Kapitel der Dürrenmattforschung zu sprechen von der Transposition naturwissenschaftlicher Denkmuster in den literarischen Texten.

Zu sprechen wäre in diesem Zusammenhang, aufgezählt im Gegensinn der Werkgenese, zum Beispiel von der kosmologischen Metaphorologie, die Dürrenmatt in den Stoffen zur Bestimmung des Erinnerns und damit zur Bestimmung des schreibenden Subjekt der Stoffe selbst einführt. Zu sprechen wäre in diesem Zusammenhang von dem kniffligen methodologischen Problem, wie der werkimmanente Zeitbegriffs ins Verhältnis zu setzen sei zur philologischen Rekonstruktion einer Chronologie der Textgenese. Einige Überlegungen zu dieser Thematik sind in der Zürcher Antrittsvorlesung zu finden.

Weiter wäre zu sprechen von der Transposition des quantenmechanischen Beobachtungsproblems in der Erzählung "Der Auftrag oder vom Beobachten des Beobachters der Beobachter". Der Bezug zu Frage "Quis custodiet ipsos custodes? Wer wird die Beobachter beobachten?", mit der Eddington das zentrale erkenntnistheoretische Kapitel seiner "Philosophie der Naturwissenschaft" einleitet, wäre zu explizieren. Die Quantenphysik lehrt, dass ein "reines" Beobachten nicht möglich ist, dass jeder Beobachter mit dem beobachteten System interagiert und es dadurch verändert. Polyphem, der ins Mythische gesteigerte Kriegsberichterstatter in Dürrenmatts Erzählung, will aber genau das sein: ein reiner Beobachter. Dieses Ziel ist im Hinblick auf die quantenphysikalischen Gedankengänge, als "contra naturam" zu verstehen. Das manifestiert sich in seinem gestörten Verhältnis zur Zeit, in seinem gestörten Verhältnis zum Darstellungsmedium Film und schliesslich in seinem verzweifelten Selbstmord. Demgegenüber gibt die Protagonistin der Erzählung in einem entscheidenden Moment jegliche Distanz auf: sie wird gezwungen, wie ein Tier zu kämpfen – und sie hat Glück, was zwar unwahrscheinlich ist, aber nicht unmöglich und jedenfalls ein Novum in Dürrenmatts Werk.

Ausführlich wäre zu handeln von Dürrenmatts wiederholten Anstrengungen, am Leitfaden des naturwissenschaftlichen "Gesetzes der grossen Zahl" eine politische Theorie zu entwickeln, die nicht kapitalistisch und nicht marxistisch wäre und die doch den Primat der Gerechtigkeit über die Freiheit begründen könnte. Und es wäre im gleichen Atemzug zu berichten von der expliziten Zurücknahme dieser Versuche in der Erzählung "Winterkrieg im Tibet". Die These lautet: Dürrenmatts politische Haltung ist ohne seine Auseinandersetzung mit dem thermodynamischen und quantenmechanischen Gesetz der grossen Zahl nicht zu verstehen.

Abzuhandeln wäre das radikale literarische Experiment, ausgerechnet im Ödipus-Stoff, der Schicksalstragödie schlechthin, das Konzept Schicksal durch das Konzept Zufall zu ersetzen. Diese Experiment – angesetzt im Text-Synchrotron des Mitmacher-Komplexes - mündet literarisch triumphal in die Erzählung "Das Sterben der Pythia" und damit in die Wiedergeburt des Prosaautors Dürrenmatt aus dem Debakel des Theaterschriftstellers.

Von alledem kann ich hier aus Zeitgründen nicht ausführlicher sprechen. Darstellen will ich jetzt nur die Umsetzungen des thermodynamischen und quantenmechanischen Zufallsbegriffs in Dürrenmatts Kriminalroman Das Versprechen, dessen Untertitel "Ein Requiem auf den Kriminalroman" bereits die Distanz zum hergebrachten Gattungsmuster benennt.

Dürrenmatts Auseinandersetzung mit modernen Wissenschaftstheorien, namentlich mit Erschütterung des kausalmechanischen Determinismus durch die Thermodynamik der Gase und die Quantentheorie, ermöglicht die Analyse und die kreative Umgestaltung wesentlicher Voraussetzungen des klassischen Kriminalromans. Namentlich geht es um die seit Sherlock Holmes geprägte Siegerrolle des mit naturwissenschaftlichen Methoden investigierenden Detektivs, und es geht um die Rolle von Kommissar Zufall, der in Dürrenmatts Version, dem genialen Detektiv nicht mehr, wie sonst üblich, zu Hilfe kommt, sondern ihm, dem Wissenschaftsgläubigen, einen Knebel zwischen die Beine wirft, über den er existentiell strauchelt. In einem poetologischen Gespräch zwischen eine Polizeihauptmann und einem Schriftsteller kritisiert der Praktiker die weltfremde Art, wie Literaten die Syntax der Handlungskette konzipieren, und er erzählt die Geschichte von Kommissar Matthäi als ein realistischeres Gegenstück.

Kommissar Matthäi ist ein genialer Kriminologe, bewandert in der wissenschaftlichen Erstellung von Täterprofilen. Aufgrund seiner wissenschaftlichen Erkenntnisse, die ihn zur Prognose befähigen, stellt er einem Wiederholungstäter, einem Serienmörder eine Falle. Und er behält wissenschaftlich recht, nur praktisch nicht. Wenige Kilometer vom künftigen Tatort entfernt, wo eine weiteres Opfer, bewacht von einem großen Polizeiaufgebot, auf ihn wartet, kommt der Mörder unerkannt bei einem Verkehrsunfall ums Leben. Matthäi wartet weiter auf die Bestätigung seiner Theorie, ein Leben lang. Er glaubt an die Wissenschaft und scheitert an einem läppischen Zufall. Wissenschaftliche Aussagen stimmen im Allgemeinen, d.h. sie stimmen statistisch, für die große Zahl von Fällen, aber zuverlässige Prognosen über den Einzelfall sind nicht möglich. Zu dieser Einsicht in die statistische Geltung von Naturgesetzen und die Indeterminierbarkeit des Einzelfalls gelangt man in Auseinandersetzung mit der Thermodynamik, namentlich mit der kinetischen Gastheorie. Das Verhältnis von Druck und Temperatur läßt sich für die Gesamtheit einer großen Menge von Gasmolekülen genau berechnen. Doch Prognosen über das Verhalten eines einzelnen Moleküls sind nicht möglich. Radikalisiert wurde der Indeterminismus durch die Quantenmechanik. Halbwertszeiten radioaktiver Stoffe lassen sich bestimmen. Eine Aussage darüber, wann genau ein einzelner Atomkern zerfällt, ist nicht möglich. Impuls und Ort eines Photons lassen sich nicht gleichzeitig vollständig bestimmen. Dürrenmatt hat diese naturwissenschaftlichen Erkenntnisse ins Literarische transponiert, indem er die Problematik des Zufalls im tradierten Erzählmuster des Kriminalromans durchdachte und neu konzipierte und er hat die literarische Problematisierung der Wissenschaften um eine Fragestellung bereichert. Wie geht ein Wissenschaftler um mit der Diskrepanz von Berechenbarkeit und Zufall? Matthäi glaubt offenbar an die deterministische Gültigkeit der Wissenschaft, und er scheitert daran. Wie er zu diesem Glauben kommt, das mag nun die psychologische Dimension des Romans ausmachen. Unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten jedenfalls lässt sich sagen, dass dieser Glaube nicht vernünftig ist, und es lässt sich zeigen, dass der Klassische Kriminalroman in der Tendenz eher bestrebt ist, diesen unvernünftigen Glauben an die Beherrschbarkeit und Prognostizierbarkeit der Welt zu verstärken. In der klassischen Form ist der Kriminalroman unter wissenschaftstheoretischen Gesichtspunkten nicht mehr zeitgemäß.

3. Kritik an der methodischen Ausklammerung des Subjekts aus der naturwissenschaftlichen Forschungspraxis

Dürrenmatt glaubt gerade aufgrund seiner Auseinandersetzung mit dem Zufallsbegriff und der Indeterminiertheit der Natur selbstverständlich nicht an die logozentrische Allmachtposition des Bewußtseins. Trotzdem läßt sich diese Dezentrierung des Subjekts nicht mit dem Ende des Subjekts gleichsetzen, wie es im Poststrukturalismus verstanden und bejaht wird. Dürrenmatts Subjekt ist ein inkorporiertes und insofern endliches Ich, das als Wahrnehmungszentrum einer zwar nur hypothetisch fassbaren, aber doch erlebbaren Welt irreduzibel bleibt. Diese konstitutive Subjektfunktion wird in Dürrenmatts Sicht am radikalsten von den neueren Entwicklungen der Naturwissenschaft bedroht. Dürrenmatt illustriert diese methodischen Ausschluß des inkorporierten, wahrnehmenden und weltdeutenden Subjekts aus den Verfahrensweisen der Naturwissenschaften anhand seines enttäuschenden Besuches im Observatorium auf Mount Palomar, wo das seinerzeit grösste Teleskop steht und von wo aus Zwicky den Weltraum nach den Supernovae zu durchforschen begann. Dürrenmatt besucht dieses Observatorium im Jahr 1981. Er spricht davon in einem Interview mit Kreuzer im Jahr 1982 und analysiert die Schockerfahrung vertieft im Jahr 1984 in seinem Frankfurter Vortrag "Kunst und Wissenschaft".

Man führte mir das Riesenteleskop vor, ließ die Kuppel öffnen, dann kreisen. Ein Mittelding von Kran und Lift schob mich sieben, acht Meter hoch über den gewaltigen Spiegel auf den Sessel, auf welchem einst Zwicky und Baade gesessen hatten. "Mein Gott, wenn das der Direktor wüßte", murmelte der Techniker. Baade und Zwicky hatten noch Nächte hindurch beobachtet, in Wintermänteln frierend unter der geöffneten Kuppel. Nun war alles automatisch, seit Jahren hatte kein Mensch mehr durch die Okulare geschaut, Fernsehkameras ersetzten das menschliche Auge. (7.554)

Das Teleskop von Mount Palomar mit dem Astronomen Hubble

Im Gespräch mit Franz Kreuzer hat er noch deutlicher, weniger gefiltert geäußert, was ihn erschreckte: " Man erwartet Fernrohre und Gelehrte, die durch die Fernrohre schauen. Nichts dergleichen: Alle Bilder werden von Videokameras aufgenommen, in einen Arbeitssaal überspielt, und da wird am nächsten Tag das Spektrogramm, das in Zahlen aufgelöste Spektrogramm, studiert, keineswegs mehr dieses herrliche farbige Gebilde, das man früher als Spektrum kannte." (G3. 146) Deutlich wird hier, daß Dürrenmatts Interesse an den Naturwissenschaften trotz der Auseinandersetzung mit Relativitätstheorie und Quantenphysik, weiterhin im Paradigma einer morphologischen Naturbetrachtung angesiedelt ist, dessen namhaftester Vertreter wohl Goethe war.

Zum Verlust der Anschaulichkeit tritt ein zweites Schockerlebnis. Dürrenmatt befragt den auf Mount Palomar tätigen Astronomen über ein jüngst durch Radioteleskope entdeckte Milchstraße, die weit größer sei als die unsere. "Keine Ahnung, sagte er, er beschäftige sich nur mit Seyfert-Galaxien." Der forschende Spezialisten interessiert sich nicht mehr für das Ganze, ihn beschäftigt ein wohldefinierten Details, das Verständnis für die anthropomorphe Dramatik der Größe hat er sich abgewöhnt. Dürrenmatt verläßt den Raum, ich denke, fluchtartig: "draußen frage ich nach dem Archiv. Tausende von Aufnahmen, darunter die berühmte erste Supernova, die Zwicky in einer fernen Milchstraße fotografiert hatte." Hier findet sich Dürrenmatt wieder zurecht. Er zieht sich zurück zu den Bildern des analogen Zeitalters, die Digitalisierung der Daten schließt sein Anschauungsbedürfnis aus.

Die systematische, immer radikaler fortschreitende Ausklammerung des menschlichen Körpers aus den Methoden der Naturwissenschaft hat der Wissenschaftshistoriker Werner Kutschmann in seinem Buch Der Naturwissenschafter und sein Körper untersucht und anhand der Experimentierpraxis Girolamo Cardanos, Johann Kepplers und Isaac Newtons als fortschreitende Desanthropomorphisierung beschrieben. Eine Drehpunktfunktion in diesem Prozeß kommt Galileo Galilei zu. Dieser hatte bei seinen Experimenten zum freien Fall Probleme mit der Zeitmessung. Puls und Wasseruhren waren stets abhängig von der Reaktionsweise des menschlichen Körpers. Schließlich gelang es ihm, den Faktor Zeit aus seinen Berechnungen auszuschließen, indem er die auf schiefer Ebenen rollenden Kugeln über eine Schanze springen ließ und dadurch die Beschleunigung berechnen konnte aus dem Verhältnis von Fallhöhe und Sprungweite, ohne die Fallzeit überhaupt messen zu müssen.

Sinnenfälllig zu illustrieren ist diese Ausklammerung des wahrnehmenden Subjekts auch in der bildenden Kunst anhand von Dürers Lehrbuch des perspektivischen Zeichnens. Zunächst erfordert die perspektivische Methode eine Distanzierung von Künstler und Gegenstand sowie eine Disziplinierung des menschlichen Auges und damit des menschlichen Körpers.

Und ein Körper, der sich einer derartigen funktionalen Disziplinierung unterworfen hat, kann auch weggelassen werden, er wird gleichsam wegrationalisiert; denn das perspektivische Bild kann nun durch eine geeignete Apparatur auch ohne Dazwischentreten des wahrnehmenden menschlichen Auges konstruiert werden.
Diese Rekonstruktion der Ausklammerung des wahrnehmenden Körpers aus den Naturwissenschaften und aus der bildenden Kunst skizziert zu Dürrenmatts Schock von Mount Palomar den kulturgeschichtlich langfristigen Hintergrund.

Angesichts dieser Austreibung des Körpers aus den Naturwissenschaften ergibt sich für das Spätwerk Dürrenmatts folgende Problemlage: Wie läßt sich künstlerisch über Naturwissenschaften und ihr Weltbild schreiben und reden, wenn das Subjekt aus der Naturwissenschaft methodisch immer vollständiger ausgeklammert wird? Dazu entwickelt Dürrenmatt in seinem Spätwerk eine doppelte Strategie: Erstens unternimmt er eine Erkenntnis- und sprachkritische Relativierung der physikalisch-mathematischen Theoriebildung der Physik. Zweitens radikalisiert er die Poetologie einer nicht-nachahmenden Kunst. Er setzt die Gegenwelt-Entwürfe der Literatur erkenntnistheoretische in Parallele zu den physikalischen Weltbildern und beharrt nachdrücklich auf ihrer Eigenständigkeit.

4. Spekulation und Erzählung. Eine Poetologie der Inkorporation

Dürrenmatt beschliesst den zweiten Band seiner Stoffe mit einem naturphilosophischen Panorama-Text unter dem Titel: Das Hirn. In expliziter Gegenbildlichkeit zum bekanntesten heutige Welt-Entstehungsmodell der naturwissenschaftlichen Kosmologie, zur Urknall-Theorie, setzt Dürrenmatt an den Anfang seiner literarischen Seinsgeschichte ein Hirn, das schrittweise Musik und Mathematik, dann die Evolution der Natur und die Menscheitsgeschichte aus sich heraus entwickelt, um schliesslich beim Schreiben jenes Textes anzulangen, den wir lesen, beim Hirn eines "zuckerkranken Gottes ohne Bart", eines "metaphysischen Mumpitz-Gottes", der sich schreibend unsere Welt zusammenträumt.

Die Bezüge zur Kosmologie der theoretischen Physik und zur Evoltionsbiologie sind offensichtlich. Computermythen sind allgegenwärtig. Dürrenmatt erweist sich auch hier als informierter Leser und Umsetzer moderner naturwissenschaftlicher Texte, wobei die konkreten intertextuellen Bezüge im einzelnen noch kaum erschlossen sind. Das ist hier auch nicht in Kürze zu leisten. Doch sollte die Fülle dieser Bezüge den Blick nicht trüben für die Architektur des Textes insgesamt. Entscheidend für Mähne Interpretation ist nicht das Gestöber der Motive im einzelnen, sondern der Blick auf die integrierende Grossstruktur und auf deren ironische Wendung am Schluss, musikalisch gesprochen: ich versuche keine Analyse des thematischen Materials, sondern möchte die grosse Form der Komposition in den Blick nehmen. Diese Grossstruktur ist nun keineswegs den modernen Naturwissenschaften entliehen, strukturbestimmend für den Aufbau des Textes ist vielmehr ein naturphilosophisches Denkmuster, wie es uns im deutschen Idealismus und namentlich im Hegelschen System entgegentritt. Dürrenmatts Text erscheint ist ein Palimpsest im Sinne Gérard Genettes. Die Grossstruktur des Textes ist ein intertextuelles Strukturzitat oder, um in Genettes Terminologie zu sprechen, ein Hypertext, dessen Hypotext allerdings nicht explizit benannt wird und der dennoch besser lesbar wird, wenn man ihn als Parodie, oder präziser als (ernst gemeinte) Transposition des zugrundeliegenden Modells erkennt.

Dürrenmatts Text "Das Hirn" verläuft in fünf deutlich abgrenzbaren Phasen. In der ersten Phase ist das Hirn zwar tätig, aber noch ohne Inhalt, ohne Bewusstsein und ohne Sprache. Es ist ein Mega- Chip unter elektrischer Spannung, der seine Möglichkeiten noch nicht kennt, ja dessen Möglichkeiten noch nicht erprobt sind. Aus dem Rauschen der Ionen in den Nervenzellen lässt Dürremnatt zunächst einen Takt entstehen, das binäre Wechseln von Spannung und Nullspannung. Diese wiederholte An- und Abschalten erzeugt nach Dürrenmatt eine Grundangst, die durch den kontinuierlichen Prozess des Zählens überwunden wird. Aus dem Zählen folgt ein Rhythmus, eine musikalische Komposition und schliesslich die Mathematik. Musik und Mathematik sind also bei Dürrenmatt schon da, bevor es eine Welt gibt und bevor Ichbewusstsein entsteht. Diese erste Phase der Weltevolution aus dem Hirn entspricht, so meine These, dem Hegelschen An-sich-sein des Geistes, den Gedanken Gottes vor der Schöpfung. In Hegels Darstellung füllen diese Gedanken Gottes vor der Schöpfung die zwei Bände der Logik, hier bei Dürrenmatt, ist diese Anfangsphase computertmythologisch binarisiert, kierkegaardisch psychologisiert und schopenhauerisch musikalisiert worden. Dürrenmatts Hirn funktioniert zuerst als musikalischer Synthesizer, bevor es zur Rechenmaschine wird.

Diese Rechenmaschine tritt nun, hegelsch gesprochen, in die Phase des Fürsichsein, des objektiven Geistes, indem sie das Konzept der Materie erdenkt, den Urknall produziert, den Kosmos entstehen lässt und dann, nach vielen Versuchen, die unwahrscheinlichste aller Möglichkeiten weiterspielt, das biologische Leben auf dem Planeten Erde. Es wird die Urzelle generiert, aus ihr entwickelt sich stufenweise die belebte Natur.

Auf einer hohen Stufe der Komplexität generiert das Leben ein Ichbewusstsein, womit die dritte Phase des Ablaufs eingeleitet wird, nach Hegel die Phase des Anundfürsichseins. Erst zusammen mit dem Ichbewusstsein bilden sich bei Dürremnatt die Hegelschen Anfangskategorien des Seins und des Nichtseins, allerdings in umgekehrter Reihenfolge, denn die erste wissenschaftliche Erkenntnis des bewussten Ich ist nach Dürremnatt der Tod.

Nun tritt auch bei Dürremnatt, wie das bei Hegel der Fall ist, das Bewusstsein in den Kampf um Anerkennung, wenn es auf Seinesgleichen trifft, auf ein anderes Selbstbewusstsein. Damit beginnt die Geschichte der Menschheit. Hier nun findet sich der einzige explizite Bezug auf Hegel in Dürrenmatts Text, allerdings mit einer signifikant parodistischen Veränderung. Die Vergesellschaftung des Geistes wird nicht aus dem Konflikt von Herr und Knecht entwickelt, sondern – mit verdeckter Referenz an Bachofens Mutterrecht und den Feminismus - als Kampf zwischen Knecht und Herrin konzipiert. Aufbau und Ende des Matriarchats nehmen in Dürrenmatts Weltentwurf bereiten Raum ein.

Bei Hegel kulminiert die Entwicklung des Denkens schliesslich in der Hegelschen Philosophie selber. Der Geist tritt ein die Sphäre der Idee. Auch diese selbstreflexive Wendung wird bei Dürrenmatt in der vierten Phase des Textes wiederholt, indem das Welthirn sich am Ende jenes Hirn eines zuckerkranken Schriftstgellergottes ohne Bart ausdenkt, welcher den Text schreibt, den wir lesen, oder vielmehr: welches diesen Text aus kulturellem Treibgut zusammenbastelt, welches die Brandung der Zeit an den Strand seines Schreibtisches spült.

Diese Strukturanalogien rechtfertigen es, den Text "Das Hirn" als eine Transposition des objektiven Idealismus Hegels anzusprechen. Allerdings ist das parodierende Transponieren bei Dürenmatt nie eine harmlose Strategie. Dürrenmatts Transpositionen verwandeln jede tragische Vorlage in eine Komödie. Dürrenmatts Komödienbegriff ist bekanntlich vom Konzept der schlimmstmöglichen Wendung bestimmt. Diese wird durch den Zufall herbeigeführt. Je planvoller das Bewusstsein vorgeht, umso katastrophaler wird es vom Zufall getroffen. Dies gilt auch hier. Auch hier, in diesem späten Prosatext, erscheint die schlimmstmögliche Wendung als Manifestation des absoluten Zufalls, der nun aber nicht mehr, wie bei Hegel noch, leicht zu parieren.

Hegel pflegte einen souveränen Umgang mit dem Zufälligen. Es kommt zwar vor, auch im Prozess der Selbstentwicklung des absoluten Geistes, aber das Zufällige ist für Hegel eine vernachlässigbare Gösse. Es gibt diesbezüglich eine bekannte Anekdote: als ein Student behaupten wollte, es gebe in Brasilianischen Regenwald eine Pflanze, die der systematischen Definition der Pflanze in einem bestimmten Kapitel der Enzyklopädie widerspreche, gab Hegel ihm die Antwort: um so schlimmer für die Pflanze. Das war Hegels Umgang mit dem Zufälligen.

Bei Dürrenmatt erscheint nun das absolut Zufällige, das Undenkbare am Ende des Textes, als jener Ort, den man nicht ausdenken kann und der in keinen philosophischen Sinnentwurf integrierbar ist. Man kann diesen Ort besuchen, Dürrenmatt hat ihn aufgesucht, er berichtet davon in einfachen Sätzen, die beladen sind mit bleischwerer, undurchdringlicher Trauer: Auschwitz und Birkenau erscheinen am Ende der Dürrenmattschen Parodie des idealistisch verstandenen Werdens als das schlechthin Sinnlose, Unausdenkbare.

Die Landschaft des Todes ist grün. Der Ort wurde weder von meinem fingierten Hirn ausgedacht oder geträumt, weder vom Hirn des Gottes mit Bart, noch von jenem des Gottes ohne Bart, der in Jamaika im Bademantel auf dem Bett dem Schreibmaschinengeklapper Gabriels, dem Rauschen des Regens und dem Schleifen der Palmblätter zuhört, und auch ich habe ihn nicht erdacht oder geträumt. Er ist undenkbar, und was undenkbar ist, kann auch nicht möglich sein, weil es keinen Sinn hat. Es ist, als ob der Ort sich selbst erdacht hätte. Er ist nur. Sinnlos wie die Wirklichkeit und unbegreiflich wie sie und ohne Grund. (6.568)
 
 
Das Hirn, das die Welt in ihrem werden souverän aus sich selbst entwirft, entwirft, will Auschwitz und Birkenau nicht gedacht haben. Es verleugnet sich. An seiner Stelle ist der Körper da, der Körper des Schriftstellers, der sein Schreiben abbricht, sich aufmacht zu einer Reise des Eingedekens. Damit ist eines Zäsur gesetzt, ein Umschlagen des spekulierenden Schreibens in den Bericht, ein Umschlagen vom Philosophieren ins Erzählen. Es muss eine Singularität benannt werden, ein konkreter, unverfügbarer Ort, den ein Schrifsteller körperlich aufsucht zu einem bestimmten Zeitpunkt, da sein Hirn ihn nicht denken kann, da sein Schreiben ihn nicht aus dem Gestöber der Signifikanten ableiten kann und in diesem nicht auflösen kann. Diese Radikalisierung des Zufälligen erzwingt den Einbezug des individuellen Körpers in den Weltentwurf des Hirns. Die Hirnlastigkeit des Sinnenwtwurfs, die den Text in seinen vier ersten Stuffen charakterisiert, muss aufgegeben werden. Das bedeutet am Ende eines rein spekulativen, konstruktiven Textes den Übergang zu einem autobiographischen, körperbezogenen, situationsbezogenen Erzählen. Damit wird der poetologische Ort autobiographischen Schreibens im Spätwerk Dürrenmatts erkennbar. Die Dürrenmattsche Transposition Hegels führt konsequenterweise zu einer Transmodalisierung des Hypotextes, denn wenn das zufällige insisitert, wird aus Philosophie Literatur.

Diese Transmodalisierung des konstruktiv-spekulativen Schreiben ins autobiographische Erzählen entzieht Dürrenmatts Text den Aneignungsversuchen postmoderner Provenienz. Dies soll abschliessend in Auseinandersetzung mit der Dürrenmatt-Interpretation von Müller-Farguel dargelegt werden. Bei Dürrenmatt stehe am Ende "das Souveräne Gelächter des Grossen Alten über dem Chaos abgründiger Skepsis", behauptet Müller-Farguell jüngst in seinem Aufsatz zur Kierkegaard-Rezeption Dürrenmatts. Dürrenmatt hat in der Tat gesagt: "Wenn man schreibt, ist man immer der Grosse Alte," und er hat dabei gelacht. Das ist schon richtig. Doch man schreibt nicht immer! Manchmal steht man auf, verlässt den Schreibtisch, diesen Strand beliebig verfügbaren Kulturguts, und man unternimmt eine überfällige Reise, eine reise des Eingedenkens. Solche Erfahrungen erzwingen ein anderes Schreiben, ein letztlich autobiographisches Erzählen. Auch diese Schlusswendung gibt es bei Dürrenmatt, diesen schlichten Verweis auf den eigenen Körper und seinen Ort. Von Gelächter hier keine Spur. Bei Müller Farguell kein Wort über dieses andere Ende.

Der schlichte Bericht des Besuches von Auschwitz und Birkenau verlässt die dekonstruktiven Endlosschlaufen der Denkbarkeit und der Dekonstruierbakeit und lässt auch das Lachen der Komödie hinter sich zurück: "Es gibt Orte, wo Kunst nichts zu suchen hat." Gewiss: dies Satz steht als Satz in einem kunstvoll komponierten Text in paradoxem Verhältnis zu seinem Kontext. Doch dramaturgisch, als Inszenierung des Eingedenkens, ist dieses logische Paradox ästhetisch zu lösen. Es braucht die Sprache, um das Verstummen hörbar zu machen. Aus dem Durchgang durch das Schweigen entspringt das verkörperte Erzählen und damit die Zeugenschaft der Kunst.


Verwendete Literatur:

Dürrenmatt, Friedrich: Gesammelte Werke in sieben Bänden. Zürich: Diogenes, 1996.

Dürrenmatt, Friedrich: Gespräche 1961-1990 in vier Bänden. Zürich: Diogenes, 1996.

Eddington, Arthur Stanley: Die Philosophie der Naturwissenschaft. Bern: Franke, 1949.

Emter, Elisabeth: Literatur und Quantentheorie. Die Rezeption der modernen Physik in Schriften zur Literatur und Philosophie deutschsprachiger Autoren 1925 – 1970. Berlin, New York: de Gruyter, 1995.

Florence, Ronald. The perfect machine: building the Palomar Telescope. New York: Harper and Collins, 1994.

Genette, Gérard: Palimpseste. Literatur auf zweiter Stufe. Frankfurt: suhrkamp, 1993.

Kutschmann, Werner: Der Naturwissenschafter und sein Körper. Die Rolle der `inneren´ Natur in der experimentellen Naturwissenschaft der frühen Neuzeit. Frankfurt: suhrkamp, 1986.

Marshal, Ian and Zohar, Dana: Who´s Afraid of Schrödingers Cat? London: Bloomsbury, 1997.

Müller Farguell, Roger W.: "Zur Dramaturgie aporetischen Denkens. Dürrenmatt und Kierkegaard." In: Neue Perspektiven zur deutschsprachigen Literatur der Schweiz. Hrsg. v. R. Sabalius. Amsterdam, Atlanta: Rodopi, 1997. 153-165.

Simonyi, Karl. Kulturgeschichte der Physik. Aus dem Ungarischen von Klara Christoph. Wiss. Red. der dt. Fassung Martin Franke. Thun: Deutsch, 1990.

Weber, Ulrich u.a. (Hrsg.): Friedrich Dürrenmatt. Schriftsteller und Maler. Bern u. Zürich: SLA und Kunsthaus Zürich, 1994.