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Rudolf Käser:

Arzt, Tod und Text.
Grenzen der Medizin im Spiegel deutschsprachiger Literatur

Einleitung

Kontroversen um die kulturelle Bedeutung der modernen Medizin

Die kulturelle Bedeutung der modernen Medizin ist zwiespältig geworden. Lange Zeit galt sie unbestritten als Kardinalbeispiel, wenn es darum ging, den humanen Sinn wissenschaftlichen Fortschritts zu belegen. Doch die Zeit der imageprägenden Erfolge, wie sie seit dem Ende des neunzehnten Jahrhunderts durch Bakteriologie und Chirurgie, Hygiene und Pharmazeutik zu verzeichnen waren, scheint heute vorbei zu sein. Jetzt prägt AIDS den kulturellen Diskurs über moderne Medizin und über ihre Grenzen. In den letzten Jahren wurden in bezug auf diese Krankheit zwar erstaunliche Forschungsresultate erzielt, doch dem Wissenszuwachs in Grundlagenforschung und Diagnostik entspricht keine durchschlagende Verbesserung der therapeutischen Möglichkeiten. Siegesmeldungen erwiesen sich allesamt als voreilig. Für kritische Beobachter ist dies Grund genug anzunehmen, daß AIDS eine tiefgreifende Wandlung unserer kulturellen Einstellung zu Krankheit und Medizin erzwingen werde. Ein solcher Paradigmawechsel würde die Utopie therapeutischer Beherrschbarkeit des Pathologischen in Frage stellen, die sich seit der heroischen Zeit der Medizin im neunzehnten Jahrhundert in unserer nordwestlichen Zivilisation als kulturelle Selbstverständlichkeit etabliert hat.(1)

Doch nicht nur die therapeutische Ohnmacht, sondern gerade auch die "Erfolge" der modernen Medizin zwingen uns dazu, die Haltung gegenüber Krankheit und Tod neu zu überdenken. Aufgrund medizinischen Könnens dauert das Leben von immer mehr Menschen immer länger, und es kann sogar über jedes sinnvolle Maß hinaus erhalten werden. Ethische Fragen im Zusammenhang mit aktiver und passiver Sterbehilfe sind nicht neu. Unsere Kultur schleppt sie vielmehr seit langem als umstrittene Probleme mit sich. Der gewaltsame Lösungsversuch, auftretend in Deutschland als Reaktion auf die Niederlage im ersten Weltkrieg und schrecklich realisiert als staatlich organisierte Vernichtung sogenannt `lebensunwerten Lebens´ durch die Nationalsozialisten, gilt zu Recht als Manifestation abscheulicher Barbarei inmitten der modernen Zivilisation. 

Eine neue ethische Problemlage entsteht hingegen dadurch, daß die technischen Möglichkeiten der Organtransplantation eine auf die Bedürfnisse der Medizin zugeschnittene Definition des Todes mit sich gebracht haben. Tod wird heute definiert als Hirntod. Sein Eintreten ist nur noch apparativ feststellbar und hat mit den sinnlichen Parametern, die in unserer Kultur traditionellerweise die Erfahrung des Todes charakterisieren, kaum mehr etwas zu tun.(2)

Auch die moderne Medizin kann den Begriff des Todes nicht verändern, ohne zugleich den Begriff des Lebens neu zu fassen. Im Hinblick auf ethische Probleme des Schwangerschaftsabbruchs, vor allem aber im Zusammenhang mit embryotechnologischem "Handlungsbedarf", haben Ärzte in Analogie zum Hirntod jüngst auch den Beginn des Lebens als Beginn des "Hirnlebens" definiert. Hirnleben beginne mit dem Zeitpunkt der Bildung erster Synapsen im Zentralnervensystem. Dieser Zeitpunkt könne durch eine Ultraschalluntersuchung in der frühen Schwangerschaft hinreichend genau festgestellt werden. Vor dem Beginn des "Hirnlebens" und nach dem Eintritt des "Hirntodes" sei es nicht notwendig, "dem menschlichen Leben den vollen rechtlichen Schutz und die ungeteilte ethische Solidarität und Achtung bedingungslos entgegen(zu)bringen". So wenigstens drückt der Berichterstatter einer namhaften deutschen Wochenzeitung sich aus.(3) Gemessen an den in unserer Kultur tradierten Haltungen zum Körper der Ungeborenen, der Leidenden und der Toten erscheint dieser hirnzentrierte Lebens- und Todesbegriffs als kopflastige Pietätlosigkeit schlechthin. Umgekehrt wird die Ehrfurcht vor dem ungeborenen und vor dem toten Körper als seelischer Atavismus belächelt, der in einer modernen Welt elektronisch vermittelter Bilder von Hirntod und Hirnleben fehl am Platze sei. 
 
 
 
 

Die Deutungsmacht des medizinischen Diskurses

Errungenschaften der Molekularbiologie und Gentechnologie führen dazu, daß Beginn, Ende und Struktur des Lebens, bisher für alle Kulturen Inbegriff des schicksalhaft Gegebenen, zunehmend diagnostizierbar und manipulierbar werden für alle, die sich moderne medizinische Techniken leisten können. Dem neuen Wissen, das uns die Gentechnologie über eine zunehmende Anzahl von Erbkrankheiten beschert, steht als medizinische Maßnahme allerdings zur Zeit nur ein Handeln gegenüber, das auf den Titel Therapie kaum mehr Anspruch erheben kann, nämlich die Vernichtung eines potentiellen Krankheitsträgers durch Schwangerschaftsabbruch oder die Elimination der genetisch schadhaften Zygote aufgrund des genanalytischen Screening in vitro befruchteter Eier vor der Einpflanzung in den Uterus.(4

Doch es hilft wenig, diese Praktiken lauthals als Eugenik anzuprangern, verbunden mit dem ebenso obligaten wie hilflosen Hinweis auf das Dritte Reich. Die Mediziner können demgegenüber guten Gewissens darauf hinweisen, daß Tests nur an Zustimmenden vorgenommen werden, meist nur dann, wenn Eltern sich zuvor bereit erklären, bei `positivem´ Befund auch im Sinne der modernen Medizin zu handeln und den schadhaften Einzelfall im Namen der Gesundheit zu eliminieren. Der Prozentsatz derer, die sich in Kenntnis der möglichen Konsequenzen den entsprechenden Untersuchungen freiwillig unterziehen, sei hoch. Offenbar bestehe in dieser Hinsicht Akzeptanz.

Offen bleibt meines Erachtens hingegen die Frage, inwiefern diese Akzeptanz motiviert ist durch eine verbreitete, sich in unserer Kultur weiter verbreitende Phobie vor abweichendem Leben. Ich vermute, daß diese Phobie verstärkt wird von der wie ein Gerücht kursierenden Drohung, Eltern von Kindern mit frühdiagnostizierbaren Erbschäden könnte in Zukunft die soziale Solidarität entzogen werden, was z.B. die Streichung von Beiträgen der Kranken- und Sozialversicherung bedeuten würde. Ein dumpfes, angstgetränktes Amalgam von Eigennutz und Verantwortungsgefühl bringt werdende Eltern in dieser kulturellen Atmosphäre dazu, Tests zu akzeptieren und die Meinung der Experten zu hören. 

Wir haben allen Grund, in diesem Zusammenhang genau auf die Sprache zu achten. Wo liegt die Grenze zwischen einer Erbkrankheit und einer Erbeigenschaft? Wer bestimmt, welches Wort hier im Einzelfall zutrifft, welche Praxis also zu greifen hat? Ethische Entscheide wären im Hinblick darauf zu treffen, daß es gerade in diesem Bereich objektive Kriterien der Unterscheidung nicht gibt. Die Experten orientieren sich an der gesellschaftlichen Akzeptanz. Wer orientiert die Gesellschaft? Wer analysiert die Institutionen und Instanzen, die, offen und verdeckt, unsere Wertsetzungen gerade in den Fragen steuern helfen, wo wir, unserem Selbstbild entsprechend, in ethisch autonomer Selbstverantwortung zu entscheiden hätten? 

Anhand der Gentests und ihrer Konsequenzen wird deutlich, daß die sprachliche Definition der Begriffe und damit die soziale Konstruktion der Sachverhalte dem Handeln vorausgeht. Was wir aufgrund sozialer Konstruktion unserer Sprache denken und vor uns sehen, wenn wir Worte aussprechen wie `Mongolismus´, `Down-Syndrom´ oder `Trisomie 21´, entscheidet über Leben und Tod; und es bestimmt die Lebensqualität derer, die mit dem so benannten Stigma unter uns leben.

In Widerspruch zu den Dogmen einer verbalen `political correctness´ vermute ich, aus kulturpsychologischer Sicht, daß trotz der als rassistisch verdächtigten Bezeichnung ein Mensch, dessen Gesichtszüge als `mongoloid´ gesehen wurden, in der Gesellschaft leben konnte, gerade weil das stereotype Krankheitsbild mit der Vorstellung eines Gesichts und daher mit der Vorstellung eines kulturellen Umgangs mit anerkannter Fremdheit verbunden war. Mit der nach Sprachregelung der Humangenetik korrekteren Bezeichnung `Trisomie 21´ sind keine kulturell vorgeprägten Bilder mehr verbunden. Ein Träger der so bezeichneten Krankheit hat kein Gesicht, er wird also tendentiell unter uns nicht leben können, da wir ihn nur noch als Träger eines genetischen Schadens erkennen, nicht mehr als Person in ihrer spezifischen Andersheit. (5)

Nie entscheidet die Medizin nur über den Einzelfall; denn die Konstruktion der Kategorien, unter die der Einzelfall in der Sprache wie in der Praxis subsumiert wird, ist ein sozialer, kultureller Prozeß. Gerade die Gentechnologie und die dadurch ermöglichte Diagnose von `Erbkrankheiten´ respektive `Erbeigenschaften´ macht uns deutlich, daß es um etwas anderes geht als um die therapeutische Beseitigung eines wohldefinierten Übels. Vor aller Therapie steht im medizinischen Diskurs die Definition von `gesund´ und `krank´, die Abgrenzung von `normal´ und `pathologisch´. Nicht die Heilkunst der Medizin steht hier zur Diskussion, sondern ihre Deutungsmacht, ihre Rhetorik.

Als Interpret von `Leben´ und von `Krankheit´ steht der medizinische Diskurs in kulturellem Zusammenhang mit anderen Diskursen, welche die Kompetenz beanspruchen, normbildend festzulegen, was tunlich sei und was zu lassen wäre. Im Hinblick auf diese Konkurrenz verschiedener normbildender Diskurse in der Gesellschaft ist es von Interesse, die kritische Spiegelung der Medizin in der Literatur zu untersuchen; denn seit der Ausdifferenzierung von Wissenschaft und Kunst, seit der Mitte des 18. Jahrhunderts also, wurde Literatur zum diskursiven Ort, wo alternative, von der Wissenschaft als undiskutabel abqualifizierte Interpretationen von Leben, Krankheit und Tod aufbewahrt und weiterentwickelt werden können.(6)
 
 
 
 

Kleine Geschichte des medizinischen Fortschritts
 
 

Medizin als ein professioneller Diskurs im modernen Sinne hat sich in Europa im Laufe des 19. Jahrhunderts konstituiert. In ihrer öffentlichen Selbstdarstellung beanspruchen die Sprecher dieses Diskurses mit zunehmendem Nachdruck eine führende Rolle bei der Formulierung praxisleitender Erkenntnis auf jedem Gebiet des menschlichen Lebens.(7) Exemplarisch greifbar wird dieser Anspruch in der Bewegung der "medizinischen Reform", und ganz besonders in Person, Werk und politischer Funktion eines Rudolf Virchow (1821-1902).(8) Er begründete mit seiner Zellularpathologie das allgemein anerkannte Paradigma einer sich als Naturwissenschaft verstehenden Medizin. Er spielte für Jahrzehnte eine führende Rolle als öffentlicher Sprecher dieses Diskurses in Deutschland und weit darüber hinaus. Jahrzehntelang war er Präsident der Gesellschaft Deutscher Naturforscher und Ärzte und beeinflußte als solcher nicht nur die wissenschaftliche Orientierung, sondern maßgebend auch die erfolgreiche Professionalisierung und Standespolitik der Ärzteschaft. Als Sozialpolitiker und als Gutachter bei der hygienischen Sanierung der Stadt Berlin war er der Wortführer der medizinischen Reform. Nebenbei schrieb er ausführlich über die Prinzipien der Mädchenerziehung, beriet Schliemann bei der Ausgrabung Trojas und widmete sich schließlich ausgedehnten anthropologischen und völkerkundlichen Forschungen.

Diese Ausrichtung der Medizin an naturwissenschaftlichen Standards fand ihren bekanntesten und bis heute nachwirkenden Ausdruck später u. a. durch den Berliner Physiologen Emil Du Bois-Reymond, der im Jahre 1872 in einer Rede "Über die Grenzen des Naturerkennens" sein berühmtes "ignoramus, ignorabimus" aussprach in bezug auf alle naturphilosophischen Erklärungsversuche der Begriffe Materie, Kraft und Bewußtsein. 1883 wandte er sich in seiner Rede "Goethe und kein Ende" ausdrücklich gegen die Gültigkeit älterer, in der Literatur weiter tradierter Erklärungsmodelle und Wertvorstellungen.

Allerdings läßt sich nicht übersehen, daß die Fortschritte der naturwissenschaftlichen Medizin in den ersten zwei Dritteln des 19. Jahrhunderts vorwiegend klassifikatorischer und diagnostischer Art waren. Die große Leistung der verschiedenen klinischen Schulen dieser Zeit beruht auf der immer exakteren Beschreibung des Zusammenhanges von Krankheitsprozessen mit beobachtbaren physiologischen Veränderungen der Gewebe. Diesem pathophysiologischen Wissenszuwachs entsprach zunächst noch kein Durchbruch der Therapie. Der "therapeutische Nihilismus" der Wiener Schule sprach offen aus, was letztlich in allen Zentren der medizinischen Forschung Tatsache blieb: Das Wissen über die Krankheiten nahm zu, der Mediziner war ein strenger Naturwissenschaftler geworden und beanspruchte das entsprechende Prestige, aber den Kranken effizient zu helfen vermochte er nicht.

Erst im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts entwickelt die Medizin sich auch therapeutisch. Besonders die Chirurgie beginnt Erfolge zu zeitigen. Im Jahre 1847 wird die Äther- und Chloroformnarkose entdeckt. Die Antisepsis Listers hält ab 1867 langsam, aber stetig Einzug in die Operationssäle. Narkose und Antisepsis zusammen geben dem Patienten erstmals in der Menschheitsgeschichte eine reelle Chance, größere chirurgische Eingriffe zu überleben. Folgenreicher noch in bezug auf den Wandel des alltäglichen Lebens breiter Bevölkerungsschichten waren die Entdeckungen der Bakteriologie, beginnend mit den Entdeckungen Pasteurs, mündend in die Triumphe Robert Kochs. 1882 entdeckte Koch den Tuberkuloseerreger, 1884 den Kommabazillus, den Erreger der Cholera. Effizient waren die aus solchen Entdeckungen mit wissenschaftlicher Begründung abgeleiteten hygienischen und städtebaulichen Maßnahmen.(9) 1892 entwickelte Behring die Serum-Therapie des Tetanus. 1895 entdeckte Roentgen körperdurchdringende Strahlen und entwickelte damit eine diagnostische Methode, die aus der modernen Medizin nicht wegzudenken ist.
 
 
 
 

Vorbehalte in der Literatur: die Sterbeszene medico praesente
 
 

Untersucht man nun literarische Darstellungen der Medizin in jenem Zeitraum, der durch die Herausdifferenzierung und die Erfolgsgeschichte der modernen Medizin gekennzeichnet ist, findet man, daß Literatur, sofern es sich nicht um triviale Heroisierungen der Arztfigur handelt, mit bemerkenswerter Hartnäckigkeit auf den Schattenseiten und dem Scheitern der Medizin insistiert. Immer wieder prägt die Sterbeszene die literarische Darstellung der Medizin des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Es scheint, als möchte Literatur dem Lesepublikum angesichts des umfassenden Hegemonieanspruchs des naturwissenschaftlich orientierten medizinischen Diskurses die Beschränktheit des medizinischen Könnens und damit die Begrenztheit der medizinischen Macht in Erinnerung rufen. 

Die literarische Sterbeszene medico praesente macht die Grenze medizinischen Könnens und medizinischer Macht spürbar. Am Sterbebett wird der literarische Arzt konfrontiert mit den Sprechern konkurrierender Diskurse, mit dem Pfarrer vor allem, mit den Angehörigen, mit den Juristen. Sie alle erheben den Anspruch, im Namen ihrer je spezifischen Wahrheit die Regie zu übernehmen bei der Inszenierung letzter Minuten und letzter Worte. In dieser Grenzsituation wird deutlich, daß der medizinische Diskurs in Konkurrenz zu anderen kulturellen Diskursen steht, die ebenfalls den Anspruch erheben, den Ausgang des Menschen aus dem Leben sinngebend zu gestalten. Literatur stellt die konfligierenden Kompetenzansprüche dieser Diskurse zur Diskussion, macht auf den historischen Wandel von Diskursverhältnissen aufmerksam und stellt dem Leser damit die Frage nach einem Metadiskurs, der diese Konflikte zu regeln, diesen Wandel zu vermitteln vermöchte.

Eine der radikalsten literarischen Textstrategien zur kritischen Spiegelung des medizinischen Diskurses möchte ich den `Chiasmus des Sterbens´ nennen. Diese textuelle Figur bezieht zwei Sterbeszenen aufeinander, den Tod des Patienten und den Tod des Arztes. Wie der literarische Arzt stirbt, hängt auf das genaueste damit zusammen, wie er vorher zum unausweichlichen Sterben seiner Patienten sich einzustellen verstand. Der literarische `Chiasmus des Sterbens´ problematisiert also den medizinischen Diskurs durch Spiegelung seiner Grenzen in einem seiner Sprecher.
 
 
 
 

Ikonographischer Wandel des Totentanzmotivs Arzt und Tod
 
 

Die Begegnung des Arztes mit dem Tod wurde in den Totentänzen des Spätmittelalters und der Renaissance in eindrücklichen Bildern dargestellt.(10) Der ikonographische Wandel dieser Szene kann vorgreifend ein Schlaglicht werfen auf die Problematik, der ich dann anhand literarischer Texte nachgehen möchte.

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Im Berner Totentanz, den Niklaus Manuel Deutsch in den Jahren 1516 - 19 schuf und der uns durch die Aquarellkopien von Albrecht Kauw aus dem Jahre 1649 überliefert ist, tritt der Tod zum Arzt, wie er der Reihe nach zu allen anderen Repräsentanten der gesellschaftlichen Stände tritt.(11) Vor dem Tod sind sie alle gleich. Der Tod zerbricht die Flasche, in welcher der Arzt den Urin eines Patienten betrachtet. Uroskopie war bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine vielgeübte diagnostische Methode. Sie hatte allerdings wenig zu tun mit der chemischen Untersuchung, die wir heute kennen. Vielmehr war es eine Theorie, die ihre spekulativen Schlüsse aus der räumlichen Verteilung von Trübungen und Sedimenten in der Flasche zog, deren Kugelform als Symbol des Kosmos gedeutet wurde. Zudem erlaubt Uroskopie die Ferndiagnose und trug damit bei zur Wahrung der Distanz von Arzt und Patient. Die Berührung mit den körperlichen Realitäten des Patienten wurde vom akademischen Medicus vermieden, was auch in der Geste der linken, das Kleid raffenden Hand des Arztes zum Ausdruck kommt. Trotzdem erscheint der Arzt, gerade weil er - wie der Betrachtende des Bildes - dem Tod nichts entgegenzusetzen hat, als eine menschlich sympathische Figur. Der Patient tritt in diesem Bild als Person jedoch nicht selber auf. 

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In emblematischen Darstellungen dieser Szene wendet der Tod sich bisweilen an den Arzt mit den Worten "Arzt, hilf dir selbst". Dieser Satz, von den römischen Legionären spöttisch an den gekreuzigten Christus gerichtet (Lukas 4, 23), weist im Kontext der Totentänze darauf hin, daß gegen den Tod auf Erden kein Kraut gewachsen ist und daß nur Christus, als der wahre Arzt, ihn besiegt hat. Das Verhältnis von Arzt und Tod wird also durch einen autoritativen Text geregelt, der kein medizinisch-naturwissenschaftlicher Text ist, der aber aussagt, was es mit aller menschlichen Medizin auf sich hat und was der Tod dem Menschen bedeutet. Dieses bis weit ins 19. Jahrhundert hinein gültige Verhältnis von Arzt, Tod und Text bringt eine der "Icones" des Hans Holbein (1524) sinnenfällig zur Darstellung. In dieser Bilderreihe sind sämtliche Initialen des Alphabets als Szenen eines Totentanzes gestaltet.(12) Der Buchstabe M (=Medicus) steht im Vordergrund und bestimmt den Aufbau des Bildes. Zugleich ist er der erste Buchstabe eines literarischen Textes, der `subscriptio´ des Emblems, welcher kraft seines Kontextbezuges zur Heiligen Schrift autoritativ das im Bild dargestellte Verhältnis von Arzt und Tod definiert.

Die Ikonographie der Begegnung von Arzt und Tod bleibt im wesentlichen dieselbe vom 16. bis ins 19. Jahrhundert. Der Triumph des Todes auf Erden und dessen christliche Sinngebung wird nicht in Frage gestellt. Die von den Brüdern Grimm überlieferte Fassung des Märchens Gevatter Tod ist das frühe Beispiel eines Textes, in dem ein Arzt genau dies zu tun wagt.

Grundlegend verändert sich die Ikonographie der Begegnung von Arzt und Tod erst mit der Verwissenschaftlichung der Medizin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Mit dem wissenschaftlichen Prestige steigt die Erfolgserwartung, welche der Laie an den medizinischen Diskurs heranträgt. Zugleich hört der Arzt als Naturwissenschaftler jedoch auf, die Sprache der Laien zu sprechen. Es öffnet sich eine Kluft zwischen dem, was der kranke Laie klagt und erwartet und dem, was der naturwissenschaftliche Mediziner will und kann. Es gibt prestigeträchtige medizinische Schulen in den großen Zentren, die sich um die Wahrheit ihrer Klassifikationen und Diagnosen streiten. Der leidende Patient mag den Eindruck erhalten, dieser Streit komme ihm nicht zugute. Im Grunde erwartet er - und dies ist das mentalitätsgeschichtlich Neue - vom Arzt effiziente Hilfe gegen Krankheit und Tod. Die Enttäuschung dieser Erwartung schlägt kritisch gegen den medizinischen Diskurs zu Buche. Diese neue Lage der Dinge hat Honoré Daumier (1810-1879) in einer bitterbösen Karriaktur dargestellt.(13
 
 

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Hier stehen die Ärzte im Vordergrund. Während sie sich streiten und auf einen je anderen Text medizinischer Gelehrtheit sich berufen, holt der Sensemann im Hintergrund den Kranken. Die Geste des Todes ist brutal, die Ärzte haben jeden mitmenschlich sympathischen Zug eingebüßt. Daumiers Karikatur bringt indirekt die Erwartung zum Ausdruck, eigentlich müsste der Arzt sich um den Patienten kümmern, die Orientierung der Ärzte am Wettstreit der Theorien sei fragwürdig. Diese Erwartung ist neu. In ihrem Namen meldet Kunst Vorbehalte an gegen die eben erst einsetzende Verwissenschaftlichung der Medizin. Die Textstrategie des künstlerischen Bildes bringt den Betrachter in ein kritisches Verhältnis zum dargestellten wissenschaftlichen Diskurs.

Die therapeutischen Fortschritte, welche die Medizin, namentlich die Chirurgie, zu Beginn des 20. Jahrhunderts vorzuweisen hat, finden ihren Niederschlag schließlich auch in der Ikonographie der Begegnung von Arzt und Tod. Es beginnt die künstlerische Heroisierung der Arztfigur. Ein Stich von Ivo Saliger aus dem Jahre 1921 zeigt den siegreichen Ringkampf des Arztes mit dem Tod.(14

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Der Held, ein Chirurg, ist nach den Regeln der modernen Antisepsis gekleidet. Mit einem geschickten Handgriff bricht er dem Tod das Genick, einem Tod, in dessen ikonographische Darstellung übrigens das ganze in der Neuzeit erworbene anatomische Wissen vom Aufbau des menschlichen Skelettes eingegangen ist.

Es ist wiederum ein Karikatur, welche diese moderne Heroisierung der wissenschaftlichen Medizin auch unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Arzt, Tod und Text auf den Punkt bringt.(15) Der neuzeitliche Mediziner verwendet seinen wissenschaftlichen Text, Marles Lexikon der Therapie als Waffe, um den Tod aufs Haupt zu schlagen. 

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Solch uneingeschränkte Heroisierung des Arztes bleibt in literarischen Darstellungen der Medizin allerdings nicht unbestritten. Den literarisch formulierten Vorbehalten in bezug auf die Modernisierung und Verwissenschaftlichung der Medizin geht die vorliegende Studie nach anhand einer Reihe thematisch fokussierter, textnaher, aber kontextorientierter Fallstudien.
 
 
 
 

Methodologische Überlegungen

Die hier diskutierten Bilder und Texte könnten als "Todesmetaphern" im Sinne Thomas H. Machos betrachtet werden. "Worüber sprechen wir, wenn wir vom Tod sprechen?" Diese Frage wird auch hier gestellt. Sie ist deshalb dringend, weil "Tod" an sich das Unerfahrbare und damit Unsagbare schlechthin ist. "Der Tod läßt sich nicht erfahren; und doch werden viele Erfahrungen als Todeserfahrungen erlebt. [...] Die Metapher `Tod´ verdeckt viele besondere Gedanken und Gefühle, von der Verzweiflung bis zur Gleichgültigkeit, von den Tränen der Liebe bis zu den Tränen des Zorns, von der Angst bis zur Flucht in den Angriff."(16) Dieser Befund Machos gilt auch hier. Allerdings wird der Fokus der Untersuchung eingeschränkt: Wie moduliert der literarische Text eine kulturell tradierte Todesmetapher, wenn er in sein Zeichengeflecht zugleich den Diskurs der sich modernisierenden und verwissenschaftlichenden Medizin einarbeitet? Diese engere Problemstellung ist nicht mehr philosophisch-anthropologischer Art, sie ist diskurshistorisch und textanalytisch. Erkenntnisleitend ist die Frage nach dem diachronen Wandel der interdiskursiven Beziehungen von Literatur und Medizin.

Die Anwendung interdiskursiver Lesemethoden hat in literatur- und wissenschaftsgeschichtlichen Ansätzen jüngeren Datums zu unterschiedlichen Bestimmungen des Verhältnisses von literarischen und wissenschaftlichen Diskursformen geführt. Es sei hier nur auf zwei prominente Beispiele hingewiesen. Greenblatt zeigt in Shakespearean Negotiations, vor allem im Essay "Fiction and Friction", daß die theatralische Darstellung von Geschlechtsverwechslungen, z.B. in Twelfth Night, als Appropriation von Diskursen zu verstehen ist, die von der galenischen Konstruktion des Geschlechtsunterschiedes ausgehen und daher einen anatomischen Parallelismus der Geschlechtsorgane annehmen, die beim Mann in Perfektion sichtbar, bei der Frau hingegen aufgrund eines Mangels an Hitze nach innen gezogen und unsichtbar seien. Dieser medizinische Diskurs erfülle, bezogen auf die Repräsentation des Geschlechtsunterschiedes in den Dramen Shakespeares, die Funktion eines historischen Apriori. Scheinbar umgekehrt kommt der deutsche Wissenschaftshistoriker Wolf Lepenies in Die drei Kulturen. Soziologie zwischen Literatur und Wissenschaft zum Schluß, daß literarische Darstellungsformen gesellschaftlicher Verhältnisse eine Bedingung der Möglichkeit sind für die Konzeption soziologischer Anschauungsweisen sowohl bei Auguste Comte wie bei John Stuart Mill. Daß zwei Diskurshistoriker zu derart gegensätzlichen Bestimmungen des Verhältnisses von Literatur und Wissenschaft gelangen, hängt erstens ab vom Textkorpus, den sie bearbeiten, zweitens vom Kontext, in dem sie ihre Lektüre, nicht zuletzt mit polemischer Absicht, zur Geltung bringen. Greenblatt will seine kontextualisierende Lektüre Shakespeares gegen den methodisch geschichts- und kontextvergessenen Ansatz der Deconstruction ins Feld führen und dabei weder dem Autonomiepostulat für Literatur des New Criticism das Wort reden, noch dem marxistischen Determinismus von Basis und Überbau. Lepenies dagegen verteidigt die wissenschaftshistorische Bedeutung der Literatur gegen eine mehr und mehr quantitativ orientierte und auf ökonomische Sachverhalte ausgerichtete Sozialwissenschaft. Beide geben zu bedenken, die strikte Trennung von Wissenschaft und Literatur sei den historischen Gegebenheiten nicht angemessen. Diese starre Trennung entspringe weniger, so ein gemeinsamer Nenner ihrer Ergebnisse, der Geschichtlichkeit der Literatur oder der Wissenschaft selbst, als vielmehr dem Abgrenzungsbedürfnis verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen und Schulen in der gegenwärtigen akademischen Diskurslandschaft.

Generalisierende Theorien über das Verhältnis von Literatur und Medizin sind angesichts dieser divergierenden Ergebnisse voreilig. Gefordert ist die Historisierung der Fragestellung. Sinnvoll erschien mir die Ausarbeitung einer Reihe von Fallstudien, die mit hinreichender Präzision literarische Texte und ihre relevanten Kontexte aufeinander beziehen, ohne sie ineinander aufgehen zu lassen.(17)

Eine exemplarische Arbeit, die für die literaturwissenschaftliche Ausarbeitung kontextualisierender Lektüre maßstabsetzend ist, hat Walter Müller-Seidel mit seiner Studie Die Deportation des Menschen zu Kafkas Erzählung In der Strafkolonie geleistet. Müller-Seidel stellt Kafkas Text in den Kontext der europäischen Rechtsgeschichte der Zeit, namentlich in denjenigen von Theorie und Praxis der Deportation. Über die thematische Ergiebigkeit hinaus gibt diese Studie unter den Stichworten "doppelte Optik" und "Verknüpfung" einige in der konkreten Praxis kontextualisierenden Lesens gewonnene methodische Hinweise. Müller-Seidels methodologische Maxime der "doppelten Optik" wendet sich gegen die Tendenzen, das Kunstwerk entweder von seinen zeitgeschichtlichen Kontexten im Namen ästhetischer und existentialistischer Voraussetzungen abzuspalten oder es umgekehrt ohne Berücksichtigung seiner spezifisch literarischen Verfaßtheit in den zeitgeschichtlichen Kontexten aufgehen zu lassen. "Doppelte Optik" heißt dann, "das eine zu sehen, ohne das andere zu übersehen," und es heißt auch, die Kategorien der Vermittlung konkret zu fassen: "Nur Zusammenhänge herzustellen, genügt nicht. Auf die Art der Verknüpfung und auf die Evidenz ihrer Begründung kommt es an. [...] Die Verknüpfung bleibt von Fall zu Fall zu leisten, eigentlich von Satz zu Satz."(18)
 
 
 
 

Leitfragen

Ich habe mich auf die literarische Darstellung des Sterbens medico praesente konzentriert, um durch das Studium einer wiederkehrenden literarischen Szene eine praktikable Vermittlung zu finden zwischen der Einzelinterpretation literarischer Texte und dem Versuch, die prägende Macht der modernen Medizin auf die alltägliche Erfahrung von Gesundheit, Krankheit und Tod diskurshistorisch zu rekonstruieren.

Wie wird die Deutungsmacht der medizinischen Diskurse angesichts des Unheilbaren literarisch dargestellt? Ist die Sterbeszene medico praesente ein literarischer Inszenierungsort konkurrierender Geltungsansprüche unterschiedlicher Diskurse? Versucht der literarische Text diesen Konflikt metadiskursiv zu lösen? Auf welche Wertkonzepte greift er dabei zurück? Oder beschränkt sich seine Funktion auf die Darstellung des Konfliktes? Wie ist der literarische Text mit den dargestellten außerliterarischen Diskursen verknüpft? Lassen sich bestimmte Strategien und Tendenzen der Appropriation feststellen? Wie hängen diese zusammen mit der inneren, poetologischen Organisation des literarischen Textes selbst?

Diese Fragen wurden an die literarischen Texte gestellt, genauer: sie wurden im Laufe der Auseinandersetzung mit literarischen und nichtliterarischen Texten allererst formulierbar. Immer wieder habe ich versucht, von Sterbeszenen medico praesente auszugehen und auch zu ihnen zurückzukehren. Trotz dieses Willens zur Einheitlichkeit haben die zentrifugalen Kräfte der internen und externen Kontextualisierung dazu geführt, daß in den einzelnen Kapiteln je recht unterschiedlich vorgegangen werden mußte; denn alle Bezugspunkte im untersuchten interdiskursiven Feld sind selbst in Bewegung. Nicht nur wandeln sich die medizinischen Diskurse durch ihre zunehmende Verwissenschaftlichung, die Literatur selbst wandelt ihre Funktion im Kontext gesellschaftlicher Institutionen. Damit verschieben sich die interdiskursiven Verhältnisse von Medizin und Literatur. In diesem kulturgeschichtlichen Prozeß ist die Sterbeszene medico praesente weder roter Faden noch Leitmotiv. Vielmehr erscheint sie als ein selbst mobiler Reflektor. Durch wiederholtes Anpeilen desselben wurde versucht, Einblick zu erhalten in die Entwicklung der Distanzen im allseitig bewegten Ensemble kultureller Diskurse.
 
 

Fussnoten

(1) Zur Genealogie dieser medizinischen Utopie im 19. Jahrhundert vgl. Schipperges: Utopien der Medizin. Geschichte und Kritik der ärztlichen Ideologie des neunzehnten Jahrhunderts. Eine radikale Hinterfragung der medizinischen Fortschrittsideologie und ihrer kulturellen Konsequenzen unternimmt Illich in: Die Nemesis der Medizin. Von entscheidender Bedeutung ist dort der Begriff der "kulturellen Iatrogenesis", S. 152ff.: "Jede Kultur entwickelt eine einmalige Gestalt der Gesundheit und ein Gefüge von Einstellungen zu Schmerz, Krankheit, Schwäche und Tod, deren jede eine Kategorie menschlichen Verhaltens bezeichnet, die traditionell die Kunst des Leidens genannt wurde. [...] Alle traditionellen Kulturen leiten ihre hygienische Funktion aus dieser Fähigkeit ab, dem einzelnen die Mittel zu geben, um Schmerz erträglich, Krankheit oder Schwäche verstehbar und den Schatten des Todes sinnvoll zu machen. [...] Die Ideologie, die der moderne, kosmopolitische Medizin-Betrieb propagiert, läuft diesen Funktionen zuwider. Er untergräbt radikal den Fortbestand alter Kulturprogramme und verhindert die Entstehung neuer, die Verhaltensmuster für Selbstbehandlung und Leiden bieten könnten. [...] (Diese Kulturprogramme) werden durch einen medizinischen Kodex verdrängt, der von den Individuen verlangt, sich den Anweisungen von Hygiene-Aufpassern zu unterwerfen."

(2) Vgl. dazu Hoff, In der Schmitten (Hrsg.): Wann ist der Mensch tot? Organverpflanzung und Hirntodkriterium

(3) Sass: "Wann beginnt das Leben?" In: Die Zeit. Zur Kritik solcher Lebens-Vorstellungen im Zusammenhang mit einer kritischen Epistemologie medikalisierter Körperbilder auf der Grundlage elektronischer Datenverarbeitung vgl. Duden: Der Frauenleib als öffentlicher Ort. Vom Mißbrauch des Begriffs Leben.

(4) Dieses gentechnische Verfahren und seine ethischen Implikationen diskutiert Testart: Le désir du gène.

(5) Für eine radikale kommunikative Ächtung kulturell vorgeprägter Metaphern plädiert Sontag: Illness as Metaphor und AIDS and its Metaphor. Susan Sontags Arbeiten sind Pionierleistungen im kulturkritischen Umgang mit Krankheitsdarstellungen. Die Schwäche ihrer Argumentation liegt meines Erachtens jedoch in ihrem ungebrochenen therapeutischen Optimismus, der z. B. darin zum Ausdruck kommt, daß sie an eine Einheitstherapie für alle Krebsformen glaubt, die zugleich die Metaphorizität von Krebs beseitigen würde (S. 60f). AIDS-Kranken erteilt sie den Rat, sich als medikalisierte Patienten zu verstehen, - "be an informed, active patient; find yourself good treatment, because good treatment does exist" (S. 103) - und denkt dabei weder an die Vorbehalte der Betroffenen in Europa und den USA noch an die Situation z.B. im krisengeschüttelten Afrika. Sontag untersucht ausschließlich Diskurse über Krankheiten, nie die Sprache Betroffener.

(6) Von der Literatur her können solche alternativen Konzepte zu gegebener Zeit wiederum in die Wissenschaft zurückwandern Vgl. dazu die These von Lepenies: "Der Wissenschaftler als Autor. Über konservierende Funktionen der Literatur", S. 145: "Literatur ist der Ort, an dem eine ausgeschiedene wissenschaftliche Alternative überwintert, um nach längerer Zeit der Karenz wieder in den wissenschaftlichen Diskussionszusammenhang zurückzukehren. Diese konservierende Funktion konnte die Literatur im vollen Umfange erst erfüllen, als die Trennung von Wissenschaft und Literatur vollzogen war." Ursprung und Strukturwandel der diskursiven Abgrenzung von Literatur und Wissenschaft hat Lepenies auch in Das Ende der Naturgeschichte: Wandel kultureller Selbstverständlichkeiten in den Wissenschaften des 18. und 19. Jahrhunderts, untersucht. Er zeigt dort u.a., daß der französische Naturhistoriker und Schriftsteller Buffon zu seiner Zeit noch als ein Meister des literarischen Stils wie der Naturwissenschaften gelten konnte, und er weist in einem zweiten Schritt nach, daß in der Buffon-Rezeption zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Umschwung eintritt und der Ruf dieses Autors als Naturwissenschafter gerade darum anrüchig wird, weil er sein Wissen in literarische Form gekleidet hat. Der erste bedeutende Naturwissenschafter, dessen bahnbrechendes Forschungsresultat eine Verzögerung in der Rezeption erfuhr, weil der Autor bereits als Literat galt, war Goethe und seine Entdeckung des Zwischenkieferknochens beim Menschen. In Das Ende der Naturgeschichte hat Lepenies das Weiterleben naturgeschichtlicher Vorstellung bei Balzac nachgewiesen, und er hat in "Der Wissenschaftler als Autor" den Wechsel von wissenschaftlicher Exklusion, Aufbewahrung und Weiterentwicklung in der `schönen Literatur´ und Rückwanderung in die Wissenschaft anhand von Themen der Psychologie plausibel gemacht. Auf Lepenies’ Ansätze aufbauend rekonstruiert Moser in seinem Aufsatz "Le reste, c'est de la littérature. Le portrait négatif de la littérature par les auteurs savants du 18e siècle" das negative Bild, das wissenschaftliche Autoren in ihren Schriften von der Literatur zu zeichnen beginnen.

(7) Zur Sozialgeschichte der Professionalisierung des Ärztestandes in Preußen und in der Schweiz vgl. Huerkamp: "Die preußisch-deutsche Ärzteschaft als Teil des Bildungsbürgertums: Wandel in Lage und Selbstverständnis vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis zum Kaiserreich" und Braun: "Zur Professionalisierung des Ärztestandes in der Schweiz". Demgegenüber erarbeiten Porter und Porter: Patient's Progress. Doctors and Doctoring in Eighteenth-century England, und Porter: Health for sale. Quackery in England 1660 - 1850 eine sozialhistorische Perspektive, die sich methodisch nicht an den standespolitischen Selbstdefinitionen und Aktivitäten der Ärzteschaft orientiert, sondern vom Patienten ausgeht und ihn als Konsumenten eines breiten und vielfältigen Angebots von krankheitsbezogenen Aktivitäten sieht. Von besonderem Interesse ist die von Porter und Porter, S. 15, resp. S. 146ff., in dieser sozialgeschichtlichen Perspektive formulierte Relativierung der Medikalisierungstheorien Foucaults und Illichs: Die aktive Nachfrage der Patienten, insbesondere die Nachfrage nach einem schmerzfreien Sterben, spiele dabei eine bedeutendere Rolle, als die medizin- und institutionskritischen Ansätze vermuten lassen. 

(8) Vgl. dazu Ackerknecht: Rudolf Virchow. Doctor. Statesman. Anthropologist, S. 137: "Virchow’s work in public health was so extensive and many sided that one might fairly state that the average German of 1900 had benefited from it in almost every phase of his life from the cradle to the grave, whether eating or drinking, going to school or working, whether healthy or sick in a hospital."

(9) Vgl. für den Falle der Cholera dazu die hervorragende Studie von Evans: Tod in Hamburg. Stadt, Gesellschaft und Politik in den Cholera-Jahren 1830-1910.

(10) Die visuelle Ikonographie des Topos dokumentiert Block: Der Arzt und der Tod in Bildern aus sechs Jahrhunderten. Einen frischen Blick auf den Totentanz und auf seine produktive Rezeption in der Gegenwart vermittelt Pörksen: "Der Totentanz des Spätmittelalters und sein Wiederaufleben im 19. und 20. Jahrhundert".

(11) Block: Der Arzt und der Tod, S. 46f.

(12) Ebd., S. 49f.

(13) Ebd., S. 183.

(14) Ebd., S. 70.

(15) Ebd., S. 67.

(16) Macho: Todesmetaphern, S. 75f. Vgl. dazu die analogen Formulierungen zum Tod als "Grenzwert der Darstellung" in: Hart Nibbrig, Ästhetik der letzten Dinge, 12f.

(17) Der Vorwurf, der "new historicism" Greenblatts und sein Begriff der "cultural poetics" würde zwischen Literatur und Kontext keinen Unterschied gelten lassen, ist nicht gerechtfertigt. Vielmehr lenkt Greenblatt die Aufmerksamkeit gerade darauf, daß dieser Unterschied immer neu ausgehandelt werden muß und ausgehandelt wird. Die Historizität der Grenzziehung ist selber Gegenstand der Untersuchung. Vgl. dazu Shakespearean Negotiations, S. 12ff.: "If there is no expressive essence that can be located in an aesthetic object complete unto itself, [...] if there is no mimesis without exchange - then we need to analyze the collective dynamic circulation of pleasures, anxieties, and interests. This circulation depends upon a separation of artistic practices from other social practices, a separation produced by a sustained ideological labor. [...] The conventional distinction between the theater and the world, however firmly grasped at a given moment, was not one that went without saying; on the contrary, it was constantly said. [...] Indeed these boundaries were defined in relation to transgressions that were fully understood as such only after the fact, and the interests of the theater could be clearly understood only when they had been violated."

(18)Müller-Seidel, Die Deportation des Menschen, S. 15.f. und S. 88ff. Daß Müller-Seidel allerdings S. 90 die psychologische, von Ariès herkommende Kategorie der "Mentalität" mit dem diskurstheoretischen, von Foucault geprägten Begriff der "Matrix" tendenziell synonym gebraucht, mag ein Hinweis sein auf die Grenzen seines Ansatzes in dem Moment, wo die Frage nach dem diachronen Wandel und seinen Gründen in den Fokus des Interesses rückt.